Kapitel 13
SONNTAG, 2. FEBRUAR 1902 – 18 UHR
Francesca war in heller Aufregung. Als sie wieder draußen auf der Straße war, blieb sie unter dem Lichtkreis einer Laterne stehen und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Es hatte zu schneien begonnen; dicke, weiche Flocken tanzten im Licht der Laterne.
»Was ist los? Stimmt was nicht?«, fragte Joel und zupfte am Ärmel ihres Mantels.
Sie nahm ihn gar nicht richtig wahr. Bill Randall hatte Georgette de Labouches Haus am Freitagabend gegen Mitternacht betreten, einen Blick auf die Leiche seines Vaters geworfen, geflucht und war wieder verschwinden.
Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass er der Mörder war.
Doch aus irgendeinem Grund hatte er offenbar gewusst, dass die Leiche dort lag. Er war nicht überrascht gewesen, sie dort vorzufinden – sein Verhalten hatte darauf hingedeutet –, und die Tatsache, dass er nicht gleich zur Polizei gelaufen war, machte die ganze Sache nur noch mysteriöser.
Wollte er möglicherweise jemanden decken?
War er ein Komplize des Mörders?
Plötzlich standen Mary und Henrietta auf der Liste der Verdächtigen doch ganz oben. Aber Mary hatte ihren Vater über alles geliebt, und Henrietta wusste schon seit Jahren, dass ihr Mann eine Mätresse hatte.
Francesca spürte Joels Hand auf ihrem Arm und blickte auf ihn hinunter.
»Was ist los?«, wiederholte er beharrlich. »Wenn ich Ihr Gehilfe sein soll, müssen Sie's mir sagen.«
Sie beugte sich zu seinem Ohr hinunter. »Randall war in der Mordnacht bei Miss de Labouche. Wegen ihm habe ich mich in der Küche versteckt.«
»Brat mir einer 'nen Storch!«, rief Joel. Dann kniff er die Augen zusammen und fuhr fort: »Das ist aber komisch.«
»Allerdings. Er hat mich angelogen, Joel. Bill Randall war am Mordabend bereits in der Stadt.« Ob Bill wohl der Mörder sein konnte, der noch einmal an den Ort seines Verbrechens zurückgekehrt war? Francesca glaubte nicht daran. Wie verzwickt dieser Fall doch war!
»Joel, du musst jetzt nach Hause. Ich nehme eine Mietdroschke, damit dich mein Kutscher zurückbringen kann.« Francesca fragte sich, ob sie zu Bragg fahren und ihm alles erzählen sollte, was sie in den letzten Stunden erfahren hatte; doch sie zögerte. Zunächst wollte sie Hart einige Fragen stellen. Es war kurz nach sechs Uhr, möglicherweise würde sie ihn zu Hause erwischen. Später würde er gewiss noch ausgehen, und danach wollte sie ihn nicht mehr besuchen.
Zu Bragg konnte sie dagegen jederzeit gehen.
»Ich muss noch nich nach Hause«, protestierte Joel.
»Es ist Sonntag. Du solltest deiner Mutter helfen.« Sie schwieg für einen Augenblick. »Ich habe morgen zwei Seminare«, fuhr sie dann nachdenklich fort. »Können wir uns gegen zwölf vor unserer Villa treffen? Wir müssen noch einmal mit den Randalls sprechen und unbedingt Georgette de Labouche ausfindig machen«, fügte sie mit Nachdruck hinzu. »Ich möchte dringend einmal ein Wörtchen mit ihr wechseln!«
»Ich kann mich ja morgen Vormittag mal umhören, während Sie im Unterricht sind. Sie muss doch Freunde gehabt haben. Irgendjemand wird schon wissen, wo sie steckt«, sagte Joel. Francesca strahlte ihn an und tätschelte seine Schulter. »Das wäre ganz wundervoll«, sagte sie. »Vielleicht gelingt es dir ja auch, ihren Bruder aufzuspüren.«
Nachdem er in die Kutsche geklettert war, schloss sie die Tür und trug Jennings auf, zu Harts Villa zu kommen, sobald er Joel in der Avenue A abgesetzt hatte. Die Kutsche fuhr davon, und Francesca trat auf die Straße, um nach einer Droschke Ausschau zu halten. Sie hatte Glück, denn in diesem Moment kam eine die Straße heruntergefahren. Francesca hob die Hand und winkte sie heran.
Als sie an Harts Haustür von dem weißhaarigen Butler begrüßt wurde, den sie noch von ihrem letzten Besuch kannte, wurde sie plötzlich nervös.
»Ist Mr Hart zu Hause?«, fragte sie und lächelte verkrampft. »Mr Hart empfängt keine Besucher.«
Sie errötete, rührte sich aber nicht von der Stelle. Vielleicht war ja gerade eine seiner »Freundinnen« zu Gast. Sie zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Es handelt sich um eine sehr dringende Angelegenheit. Sind Sie sich sicher, dass er mich nicht empfangen wird?« Sie hielt ihren Muff mit einer Hand fest und öffnete mit der anderen ihre Handtasche, um eine ihrer Visitenkarten hervorzuholen.
»Mr Hart ist indisponiert, Miss Cahill«, sagte der Butler, der offenbar Engländer war und sie wiedererkannt hatte.
Die Art und Weise, wie er dies sagte, gefiel ihr ganz und gar nicht, und sie blickte ihn forschend an. »Ich hoffe, er ist wohlauf«, sagte sie.
Der Mann zögerte; offensichtlich rang er mit sich, ob er gegen die guten Sitten seines Berufsstandes verstoßen sollte. »Er ist indisponiert, Madam«, wiederholte er dann aber mit fester Stimme und hätte wohl gern die Tür geschlossen, wartete jedoch darauf, dass sie sich zum Gehen wandte.
»Ist er krank?«, erkundigte sich Francesca und trat an dem Butler vorbei in die riesige Eingangshalle mit den beiden Skulpturen und dem schrecklich pietätlosen Gemälde eines Künstlers namens Caravaggio.
»Madam, seine Anweisungen waren überaus präzise. Er wünscht keine Besucher zu empfangen.«
»Den Teufel wünsche ich!«
Francesca zuckte zusammen, fing sich aber schnell wieder. Hart stand am gegenüberliegenden Ende der Halle und starrte sie mit einem schiefen Grinsen an, das Francesca irgendwie gefährlich vorkam.
»Kommen Sie nur herein, Miss Cahill. Ach, und Alfred, hatte ich nicht erwähnt, dass ich für die Cahill-Schwestern immer eine Ausnahme mache?«
Alfred verbeugte sich. »Nein, das hatten Sie nicht, Sir.«
»Dann wissen Sie jetzt, dass die Damen unbeschränkten Zutritt zu meinem Haus haben.« Hart grinste Francesca erneut an.
Sie blickte ihn mit großen Augen an. Er war unrasiert und hielt eine dicke Zigarre in der Hand. Unter der lose zugebundenen samtenen Hausjacke mit dem türkischen Muster trug er ein arg zerknittertes Hemd. Das dichte, dunkle Haar fiel ihm in die Stirn. Seine Hose erweckte den Eindruck, als habe er darin geschlafen. Trotz seiner leicht zerknitterten Erscheinung fand Francesca ihn geradezu beunruhigend attraktiv. Doch ihr Instinkt sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte, und derselbe Instinkt riet ihr, mit allergrößter Vorsicht vorzugehen.
»Nur hereinspaziert, Miss Cahill«, sagte Hart mit einem strahlenden Lächeln.
»Vielen Dank«, erwiderte Francesca steif. Sie reichte Alfred ihren Mantel, den Muff, die Handschuhe und den Hut und begann den großen Raum zu durchqueren. Hart rührte sich nicht von der Stelle. Er lehnte an dem Messinggeländer der breiten, geschwungenen Treppe am anderen Ende der Eingangshalle und beobachtete Francesca, während sie auf ihn zuging.
Warum hatte sie bloß das Gefühl, als würde sie die Höhle des Löwen betreten?
Er grinste aufs Neue. Im Unterschied zu Bragg hatte Hart nur ein Grübchen, aber es saß an der gleichen Stelle. »Was für eine angenehme Überraschung.«
Als sie vor ihn trat, stellte sie bestürzt fest, dass er nach Whiskey roch. »Haben Sie etwa getrunken?«
»Aber gewiss.« Er nahm ihre Hand und hakte sie bei sich unter. »Ich feiere, haben Sie das etwa schon vergessen?«
Hart zog Francesca dicht an sich heran. Er war ein muskulöser Mann, von etwas kräftigerer Gestalt als Bragg, obgleich die Brüder beinahe gleich groß und gleich schwer waren. Francesca versuchte instinktiv, ein wenig von ihm abzurücken, doch er hielt sie fest, während er sie in die Tiefen des Hauses hineinführte.
»Sie sind betrunken«, sagte sie mit unsicherer Stimme. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sich die Brüder doch ähnlicher waren, als sie zugeben wollten. Das letzte Mal, als sie sich in der Gegenwart eines betrunkenen Mannes befunden hatte, war es Bragg gewesen, und es hatte zur Folge gehabt, dass sie sich geküsst hatten – auf eine höchst gewagte und unvergessliche Art und Weise.
»Ja, ich gestehe, ich habe ein wenig zu tief ins Glas geschaut«, erwiderte Hart fröhlich. »Und jetzt tut mir nichts mehr weh.«
Er schenkte ihr ein warmes Lächeln, und ihr Herz vollführte unwillkürlich einen Hüpfer. In diesem Moment begriff sie, warum er jede Frau bekam, die er haben wollte; sein Charme übte eine geradezu hypnotisierende Wirkung aus.
»Sie sollten wohl besser nichts mehr trinken«, flüsterte sie. »Und würden Sie bitte meinen Arm loslassen?«
»Aber warum denn?«, fragte er und führte sie in eine große, atemberaubende Bibliothek. Nicht nur Bücher und Kunstwerke – sowohl Gemälde als auch Skulpturen – füllten den Raum, sondern auch ein halbes Dutzend Sitzmöglichkeiten. In der hintersten Ecke stand ein großer Schreibtisch, an dem Hart wohl gemeinhin arbeitete.
Die Kunstwerke bestanden aus Landschaften, Porträts, Akten und Darstellungen aus Mythologie und Religion. Es gab keine vorherrschende Stilrichtung, Impressionismus und Realismus waren gleichsam vertreten.
»Weil Sie mir zu nahe treten«, erwiderte sie scharf.
Er lachte und drehte sie so, dass er sie in den Armen hielt. »Ist das denn ein Verbrechen?«, fragte er und blickte ihr tief in die Augen.
Sie duckte sich, entschlüpfte seiner Umarmung und verspürte sogleich eine unglaubliche Erleichterung. »Wir sind Fremde!«
»Sind wir das? Aber Sie sind in meinen Bruder verliebt. So fremd sind wir einander also doch nicht, meine süße Francesca.« Seine Augen funkelten.
Sie schluckte. »Glauben Sie doch, was Sie wollen. Ich ...«
»Das tue ich immer.« Zu ihrer Erleichterung entfernte er sich von ihr.
Francesca griff nach dem Kragen ihres Kleides und lockerte ihn ein wenig. Sie war sich sicher, dass Hart es genoss, mit ihr zu spielen.
Mit einem Glas in der Hand wandte er sich von der wunderschönen, mit Marmor und Spiegeln verkleideten Bar ab. »Ist Ihnen warm?«, fragte er unschuldig.
»Ja. Nein. Mr Hart, ich muss mit Ihnen reden.«
Er lachte und nahm einen Schluck Whiskey.
»Was ist denn so lustig?«
»Das Leben ist lustig, finden Sie nicht auch?« Für einen kurzen Moment verschwand das Lächeln von seinem Gesicht, und er starrte auf das Glas in seiner Hand. »Lustig, unberechenbar ... irrsinnig.«
Sie konnte fühlen, dass sein Schmerz sehr tief ging. »Sie müssen sich nicht betrinken, Mr Hart. Warum lassen Sie nicht einfach Ihren Tränen freien Lauf?«
Die anfängliche Überraschung in seinem Blick wich einer eisigen Kälte. »Und worum sollte ich Ihrer Meinung nach weinen? Doch wohl nicht um diesen verdammten Randall?«
Sie nickte und hielt ihre Hände dabei fest umklammert.
»Den Teufel werde ich tun!«, stieß er hervor, hob das Glas und schleuderte es mit aller Kraft durch das Zimmer.
Francesca stieß einen spitzen Schrei aus, als es an der gegenüberliegenden Wand – auf einem in Öl gemalten Blumenarrangement – zersplitterte.
»Scheiße! Hauen Sie ab!«, sagte er, ohne sie anzusehen, und wandte sich erneut der Bar zu. Francesca sah, dass er zitterte. Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Ich glaube, Sie sollten jetzt nicht allein sein, Mr Hart.«
Er goss sich einen weiteren Drink ein. Dann drehte er sich um und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Marmorplatte.
»Oh, jetzt wollen Sie mich also trösten?«, fragte er spöttisch.
»Ja, aber nicht auf die Weise, wie es Ihr Tonfall andeutet.« Francesca blieb regungslos stehen. Sie hatte Angst, dass sie instinktiv fliehen würde, wenn sie auch nur einen Muskel rührte.
»Warum denn nicht? Sie sind eine ungewöhnliche Frau. Eine besondere, vielleicht sogar ein wenig exzentrische Frau. Ich könnte mir denken, dass Sie nicht viel übrig haben für die Regeln der Gesellschaft.« Er starrte sie mit seinen strahlenden Augen durchdringend an.
Sie atmete tief durch. »Ja, man könnte mich wohl als exzentrisch bezeichnen, da stimme ich Ihnen zu. Und so manche Regel ist da, um gebeugt oder gebrochen zu werden – aber beileibe nicht alle.«
Er setzte das Glas ab und trat langsam auf sie zu. Francesca erstarrte, als er seine Hände auf ihre Schultern legte. »Sie und ich, wir sind uns sehr ähnlich«, flüsterte er.
»Nein, das sind wir nicht«, gab sie zurück.
Er grinste. »Wir sind beide exzentrisch, und niemand versteht uns. Sie reden hinter vorgehaltener Hand über uns.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber das ist uns egal. Wir leben so, wie es uns gefällt.«
Francescas Herz schlug wie wild. »Bitte lassen Sie mich los«, flüsterte sie, während ihr die Gedanken durch den Kopf jagten. Es lag ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagte. Auch sie hatte schon oft gedacht, dass niemand sie verstand, außer ihrem Vater und – so glaubte sie zumindest – Bragg. Aber Hart irrte zugleich auch gewaltig. »Es ist mir ganz und gar nicht egal, was die Leute sagen oder denken, und ich glaube, Ihnen geht es ebenso.«
Er ließ sie los und lachte. »Nein, Francesca, da irren Sie sich. Es schert mich einen Dreck, was die Welt über mich sagt. Das war einmal anders, aber das liegt viele Jahre zurück. Ich habe erkannt, dass es falsch ist, so zu denken, und seitdem bin ich über solche Torheit hinaus.«
»Das glaube ich nicht«, flüsterte Francesca, die ihren Blick nicht von ihm lösen konnte.
Er legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob es an. »Wie kommt es nur, dass Sie und Ihre Schwester so verschieden sind? Sie ist so anständig, so korrekt, Sie dagegen sind eine Frau mit leidenschaftlichen Neigungen.«
»Ich bin Reformistin«, sagte Francesca und fragte sich, ob er sie wohl küssen würde, wovor sie schreckliche Angst hatte. Sie zitterte am ganzen Körper, war aber dennoch nicht völlig immun gegen seinen Charme und seine männlichen Reize. Wie konnte das sein? »Bitte nehmen Sie Ihre Hand von meinem Gesicht«, sagte sie.
»Warum? Wollen Sie sich etwa für Ihren Ehemann aufsparen? Oder für meinen Bruder?« Dann ließ er seine Hand fallen, nachdem er sie erneut mit einem durchdringenden Blick gemustert hatte.
Sie wich zurück, doch selbst ein Abstand von einigen Metern und ein ziemlich großer Sessel, der zwischen ihnen stand, schienen ihr nicht genug Schutz zu bieten. »Ich bin keine Abenteurerin.«
Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Wie leicht ich das widerlegen könnte.«
Sie befeuchtete ihre Lippen. »Bitte versuchen Sie es erst gar nicht.«
Er sah sie an, und einen Moment lang schwiegen sie beide.
»Es tut mir Leid«, sagte er dann zu ihrem Erstaunen. »Es liegt am Alkohol. Ich mag Sie, Miss Cahill, und ich muss mich entschuldigen. «
»Es liegt gewiss nicht am Alkohol, sondern es sind der Schmerz und die Trauer, die aus Ihnen sprechen.«
Er warf ihr einen wütenden Blick zu und ging zur Bar zurück. Sie sah, dass er leicht schwankte, und stellte erstaunt fest, dass er doch betrunkener war, als sie angenommen hatte. »Mr Hart? Dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen?«
Er seufzte, nahm seinen Drink und ließ sich in einen großen roten Sessel fallen. »Wenn es sein muss.«
Sie nahm vorsichtig in einem Sessel gegenüber von ihm Platz. Ein kleiner Tisch stand zwischen ihnen. Es war albern, zu hoffen, dass ihn irgendein Möbelstück in Schach halten könnte, wenn er sich tatsächlich entscheiden sollte, einen unschicklichen Annäherungsversuch zu unternehmen.
Er schien ihren Gedanken erraten zu haben und lachte. »Ich werde Sie schon nicht beißen, glauben Sie mir. Wenn es sein muss, habe ich mich durchaus in der Gewalt, liebste Francesca.«
Sie saß wie erstarrt da und presste die Handflächen gegeneinander. »Ich vertraue Ihnen«, log sie.
»Schwachsinn!«, erwiderte er.
Sie errötete.
»Sie haben doch gewiss schon Schlimmeres gehört?«
»Würden Sie auch vor Connie auf diese Weise reden?«, fragte Francesca spitz.
Er betrachtete sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Ja, das würde ich. Ich rede immer, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Wenn es jemandem nicht gefällt, muss er mir ja nicht mehr Gesellschaft leisten. Es ist eigentlich ganz simpel.«
Ihre Augen weiteten sich. »Ich glaube nicht, dass irgendein Aspekt Ihres Charakters oder irgendetwas, was Sie tun, simpel ist.«
Er grinste zufrieden. »Und Sie sind ebenfalls ein schlauer Kopf. Ich beginne langsam zu begreifen, warum Bragg sich so zu Ihnen hingezogen fühlt. Also, dann erzählen Sie doch mal. Wie geht es Ihrer Schwester? Sie beide könnten Zwillinge sein, so ähnlich sehen Sie einander. Außer, dass Sie ein paar Zentimeter größer sind und Ihr Haar und Ihre Haut, ja selbst Ihre Lippen noch ein wenig goldener sind.« Er musterte ihren Mund mit einem grüblerischen, abwägenden Ausdruck.
Francesca straffte unwillkürlich die Schultern.
»Ich möchte nicht anzüglich erscheinen, aber Sie haben einen wunderschönen, sinnlichen Mund, Francesca. Ich bin Kunstliebhaber. In der Kunst geht es auf den ersten Blick um Farbe und Form. Auf den zweiten Blick um Form und Anordnung. Aber viel wichtiger ist, dass es um eine Geschichte geht, um das Leben selbst. Letztlich geht es allerdings um den Künstler und, wenn ich es so sagen darf, um Gott.« Er grinste. Francesca starrte ihn schockiert an. »Oder den Teufel«, fügte er mit einem noch breiteren Grinsen hinzu.
»Wenn ich nicht in der Lage bin, die leichten Nuancen zwischen Rosa- und Goldtönen zu begreifen«, fuhr er fort, »dann bin ich auch nicht in der Lage, die Form, die Anordnung, die Geschichte, die hinter einem Kunstwerk steckt, das Leben oder auch den Schmerz oder die Leidenschaft des Künstlers zu begreifen – wie sollte ich auch? Und wenn das der Fall wäre, sollte ich keine Kunst sammeln.« Er lächelte Francesca an und lümmelte sich dabei so träge in seinem Sessel, dass sie schon befürchtete, er würde sein Glas fallen lassen. »Farbe ist nichts weiter als die Spitze des Eisbergs«, sagte er.
»Verstehe.« Sie bemerkte, dass sie flüsterte. Dieser Mann entsprach so gar nicht dem Bild, das die Welt von ihm hatte. »Die Randalls hassen Sie«, sagte sie unvermittelt, um das Thema zu wechseln.
Er schien darüber nicht im Geringsten beunruhigt zu sein. »Nicht halb so sehr, wie ich sie hasse«, erwiderte er.
Sie beugte sich ein wenig nach vorn. »Haben Sie Ihren Vater getötet, Mr Hart?«
»Nennen Sie mich doch Calder.« Er wich ihrem Blick nicht aus. »Die Antwort lautet nein.«
Francesca hatte das Gefühl, dass sie ihm glauben konnte, aber da sie sein Verhalten so verwirrte, war sie sich nicht wirklich sicher. Wie sollte sie auch in Ruhe nachdenken, wenn ihr Herz wie verrückt klopfte und ihr jedes seiner Worte Unbehagen verursachte?
»Haben Sie Randall erpresst ... Calder?«
»Ihn erpresst?« Hart begann schallend zu lachen. »Soll das ein Scherz sein?«
»Nein. Mary behauptet es.«
Er lachte wieder. »Diese Männerhasserin!« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe meinen Vater zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen, als ich sechzehn war. In jenem Jahr ...« Er verstummte.
»In jenem Jahr?«
Er blickte zur Seite. »Ich war damals ein Narr. Ich hatte ... gewisse Erwartungen. Das hat sich aber rasch geändert.« Er lächelte sie an, aber dieses Lächeln erreichte nicht seine Augen. »Seitdem habe ich nichts mehr mit dieser Familie zu tun gehabt. Es ist ganz gewiss nicht meine Familie. Ich hasse sie. Ich hätte mir gar nicht die Mühe gemacht, Randall zu erpressen. Warum hätte ich es tun soll?«, fragte er.
Francesca biss sich auf die Lippe. »Vielleicht, weil Sie Spaß daran hatten, ihm Angst einzujagen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie meinen, ihn zu quälen? Ehrlich gesagt, hätte ich schon Spaß daran gehabt, aber auf der anderen Seite hätte mich der Kontakt zu diesen Leuten sehr viel mehr gequält als sie.« Er starrte sie an.
Sie wusste, dass er jedes Wort ernst meinte. Seine Seelennot rührte sie, aber sie musste dennoch möglichst objektiv bleiben. »Aber Sie haben doch letzten Dienstag mit Randall in Ihrem Club zu Abend gegessen.«
Er setzte sich gerade hin. »Oho! Die kleine Detektivin ist also gerissener, als es den Anschein hat. Werden Sie etwa rot, Francesca? Wie es scheint, bringe ich Sie in Verlegenheit.«
»Sie wechseln das Thema.«
Er strahlte sie an. »Nun, es war einen Versuch wert, nicht wahr? Also schön. Randall ist auf mich zugekommen. Er schien verzweifelt zu sein. Ich habe zugestimmt, mich mit ihm zum Abendessen zu treffen. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, Francesca. Seit vielen Jahren.«
»Was wollte er?«
»Geld. Wollen wir das nicht alle?« Er lächelte sie an.
»Nein, Calder. Einige von uns sehnen sich nach Liebe, Freiheit und Glück.«
»Das ist alles für Geld zu haben – bis auf die Liebe, die ohnehin nichts weiter ist als eine Illusion.«
Sie starrte ihn entgeistert an. »Über dieses Thema sollten wir uns zu einer anderen Gelegenheit noch einmal genauer unterhalten, Calder.«
Er grinste. »Ich sehe dieser Unterhaltung mit Freuden entgegen.«
Sie ignorierte die Bemerkung, die wieder einmal recht zweideutig geklungen hatte. »Meines Wissens war Randall hoch verschuldet.«
»Überaus hoch«, erwiderte Hart vergnügt.
»Und? Haben Sie ihm Geld geliehen?«
Hart sah sie mit großen Augen an. »Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein!« Er kicherte. »Nein, das habe ich nicht. Nicht einen einzigen Penny.«
Francesca war entsetzt. »Sie wollten Ihrem eigenen Vater nicht helfen?«
»Paul Randall war nicht mein Vater. Er hatte dieses Recht schon vor vielen Jahren verwirkt«, erwiderte Hart kühl.
»Aber ... wie konnten Sie Randall seine Bitte nur abschlagen? Sie haben doch so viel Geld.«
»Oh, das ist mir ganz leicht gefallen, meine Liebe. Ja, ich habe sehr viel Geld. Ich hätte genug Geld, um diese Stadt zu kaufen, und es würde noch etwas übrig bleiben.« Er starrte sie mit einem finsteren Blick an. »Und ich habe mir jeden Cent, den ich besitze, mühsam selbst verdient. Es ist mein Geld, mit dem ich tun und lassen kann, was ich will.«
Francesca wollte unbedingt vermeiden, dass er sich wieder in seine Wut hineinsteigerte. »Hätten Sie möglicherweise Interesse daran, der Damengesellschaft zur Abschaffung der Mietshäuser beizutreten?«, versuchte sie ihn abzulenken. »Es ist noch ein Platz im Beirat frei«, erläuterte sie, wobei sie sich eingestehen musste, dass sie selbst bisher das einzige Mitglied besagter Gesellschaft war.
Er starrte sie verblüfft an und begann zu lachen.
Sie lächelte ein wenig verschmitzt. »Wir könnten einen Geldgeber gebrauchen, Hart.«
»Ich danke Ihnen, Francesca. Vielen Dank dafür.«
Sie blinzelte. Plötzlich kam Hart ihr sehr ernst vor – und sehr entschlossen. Doch dann gähnte er, und sie musste sich ein Lachen verkneifen.
»Grundgütiger, ich muss mich entschuldigen«, sagte er und erhob sich. Ganz offensichtlich wünschte er ihre Unterhaltung zu beenden. Als er aufrecht stand, begann er erneut zu schwanken.
»Du meine Güte, Calder, wie viel haben Sie denn nur getrunken?«, flüsterte Francesca.
Er sah sie mit verhangenem Blick an. »Keine Ahnung. Wieso? Machen Sie sich etwa Sorgen um mich?«, fragte er belustigt. Sie ignorierte den anzüglichen Unterton. »Darf ich Ihnen noch ein paar weitere Fragen stellen, bevor ich gehe?«, fragte sie.
Er vollführte eine Bewegung mit der Hand, die wohl seine Zustimmung ausdrücken sollte, während er sich auf das Sofa zubewegte. Dann ließ er sich auf die Plüschkissen sinken und streckte sich vor ihren Augen lang aus.
»Sie haben es doch nicht ernst gemeint, als Sie Mary als Männerhasserin bezeichneten, oder? Sie muss ihren Vater sehr geliebt haben«, sagte Francesca.
»Sie ist eine Männerhasserin, Francesca.« Er schloss die Augen. »Und ich könnte mir vorstellen, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft feststellen wird, dass ihre Neigungen in eine andere Richtung gehen.«
»In eine andere Richtung?« Francesca fand es überaus seltsam, sich mit einem Mann zu unterhalten, der ausgestreckt vor ihr lag, als sei dies eine ganz alltägliche Sache.
»Ich garantiere Ihnen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann Mary sich eine Geliebte nimmt«, murmelte er. Dann gähnte er erneut und legte einen angewinkelten Arm über sein Gesicht. Francesca saß mit offenem Mund da. Ob Hart wohl Recht hatte? Konnte es wirklich sein, dass Mary Frauen Männern vorzog? Ihre Gedanken wanderten zu Daisy und Rose. »Calder, es gibt jemanden, der behauptet, Sie wären am Freitagabend nicht mit Daisy und Rose zusammen gewesen.«
Er hob den Arm und sah sie blinzelnd an. »Hat sich meine süße Daisy also verplappert!«
Bei diesen Worten errötete sie. »Nein, das hat sie nicht. Es war jemand, der eine Unterhaltung der beiden mit angehört hat. Stimmt es denn?«
Er nickte, seufzte tief und schloss die Augen wieder.
Francesca starrte ihn an. Sein Verhalten zeugte von einer zu großen Vertraulichkeit, und sie wusste, dass sie nun wohl besser gegangen wäre, aber sie musste einfach mehr erfahren. »Und wo waren Sie dann, Calder? Wo waren Sie am Mordabend um sieben Uhr?«
Er ließ den Arm auf seiner Stirn liegen, wandte ihr das Gesicht zu und öffnete die Augen. Sie bemerkte zum ersten Mal, dass sie haselnussbraun waren, mit grünen, goldenen und dunkelbraunen Sprenkeln darin. Er ließ seinen Blick langsam und genüsslich von ihrem Gesicht bis zu ihren Füßen und wieder zurückwandern, ehe er schließlich sagte: »Ich war hier.«
»Hier?«, wiederholte sie erleichtert. »Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Sie haben ein Haus voller Dienstboten ...«
»Ich war allein«, schnitt er ihr das Wort ab und schloss seine Augen wieder. »Ich hatte alle weggeschickt.«
Als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wurde, starrte sie ihn entgeistert an.
Plötzlich rutschte sein Arm auf seine Brust hinunter, und er atmete tief und gleichmäßig.
Francesca legte ihre Hände auf ihre Wangen, die sich warm und feucht anfühlten. Sie atmete tief ein und spürte, wie die Anspannung ein wenig von ihr abfiel.
Hart war also in der Mordnacht allein in diesem grässlichen Haus gewesen.
Francesca wandte sich abrupt ab und schlängelte sich durch Sessel, Tische, Sofas und Polstertruhen hindurch bis zur Tür. In diesem Augenblick tauchte gerade Alfred am Ende des Flurs auf. »Alfred, wie viel hat Mr Hart getrunken?«, fragte Francesca.
»Er hat nach Ihrem Besuch gestern Nachmittag damit angefangen«, sagte der Butler mit ängstlichem Blick.
Francesca schnappte nach Luft. »Ach, du meine Güte! Bringen Sie Mr Hart doch bitte ein Tablett mit einem Imbiss hier ins Arbeitszimmer, Alfred. Er schläft jetzt, aber stellen Sie es neben ihn, sodass er es bequem erreichen kann.«
Alfred nickte und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Francesca ihn noch einmal am Ärmel zupfte. »Und entfernen Sie die Whiskeyflaschen aus der Bar. Verstecken Sie sie, schließen Sie sie irgendwo ein.«
Alfred erbleichte. »Miss Cahill?«
Sie verschränkte die Arme. »Er sollte sich der Trauer um seinen Vater stellen, finden Sie nicht?«
Der Butler zögerte. »Da stimme ich Ihnen zu. Aber er wird mich deshalb aus seinen Diensten entlassen.«
»Nun, dann schieben Sie die Schuld eben auf mich.«
Alfred schaute sie verblüfft an, dann lächelte er. »Das werde ich in der Tat.«
»Eins noch – hat Mr Hart seine Dienstboten am Freitagabend weggeschickt?« Francesca wusste, dass es niemand glauben würde, falls es stimmen sollte – niemand, weder die Polizei noch die Geschworenen.
Alfred nickte. »Ja, das hat er.«
»Aber ... warum denn nur?«
Der Butler zögerte erneut.
»Ich versuche Ihrem Dienstherren nur zu helfen, Alfred«, sagte sie. »Sie missbrauchen sein Vertrauen nicht, wenn Sie mit mir sprechen.«
Alfred nickte. »Hin und wieder schickt er das gesamte Personal weg. Es kommt vielleicht zwei oder drei Mal im Monat vor.«
»Aber das hier ist ein so großes Haus, ein richtiger Palast! Und er schickt alle weg?«, fragte Francesca verblüfft.
»Alle«, erwiderte Alfred mit Nachdruck.
»Aber warum?«
»Ich weiß es nicht.«
Francesca konnte sich nicht vorstellen, dass jemand in einem Haus von dieser Größe allein sein wollte. »Lädt er an diesen Abenden Gäste ein?« Das war die einzig mögliche Erklärung. Vielleicht gab er Partys wie Stanford White.
»Das haben wir uns auch gefragt, Miss Cahill. Aber eines der Mädchen hat einmal ein wenig herumgeschnüffelt und herausgefunden, dass er niemanden einlädt. Er wandert umher. Allein.« Alfred hielt inne, als wolle er noch etwas hinzufügen, schien es sich dann aber anders zu überlegen.
»Und?«
»Er trinkt, wandert von einem Zimmer ins andere und schaut sich seine Gemälde und Skulpturen an.«
Francesca war erschüttert. »Und wie war das am Freitagabend? Wann ist er nach Hause gekommen? Um wie viel Uhr hat er die Dienstboten weggeschickt?«
»Er kam um kurz nach sechs nach Hause und wirkte ein wenig verdrießlich. Dann hat er sofort alle weggeschickt.«
Francesca blieb beinahe das Herz stehen. Calder hatte also kein Alibi für die Zeit zwischen sechs und neun am Mordabend. »Ich danke Ihnen, Alfred.«
Er nickte und sagte: »Nein, ich danke Ihnen, Miss Cahill.« Dann machte er sich auf den Weg in die Küche.
Francesca war völlig entgeistert von dem, was sie erfahren hatte. Wieso in aller Welt war Calder nach Hause gekommen, hatte seine Dienstboten weggeschickt und war dann ein paar Stunden später zu Whites Party gegangen? Voller innerer Unruhe kehrte sie in die Bibliothek zurück. Calder lag so still da, dass es beinahe so schien, als würde er nicht mehr atmen. Besorgt trat sie auf ihn zu und stellte mit Erleichterung fest, dass sich seine Brust unter der samtenen Hausjacke kaum merklich hob und senkte.
Sie verspürte großes Mitleid mit diesem komplizierten Mann, der, wie sie vermutete, tief verletzt worden war.
Und nun würde er in große Schwierigkeiten geraten, falls irgendjemand die Wahrheit darüber erfahren sollte, wo er sich am Freitagabend aufgehalten hatte.
Francesca blickte sich um. Die Vorhänge waren noch nicht geschlossen, und sie konnte sehen, dass es draußen kräftig schneite. Aus einem der Fenster konnte sie auf das leere Grundstück sehen, dass in nördlicher Richtung neben Calders Besitz lag. In der Ferne erkannte sie wie durch einen Schleier das gelbe Licht der Straßenlaternen auf dem Boulevard.
Sie schritt zu dem Fenster hinüber und schloss die Vorhänge. Dann nahm sie eine leichte Kaschmirdecke von dem Sessel, der vor dem Kamin stand, und kehrte zu Hart zurück. Um ihn nicht zu wecken, deckte sie ihn vorsichtig zu, und genauso vorsichtig zog sie ihm die Hausschuhe aus. Dann lächelte sie zufrieden.
»Vielleicht würden Sie mich noch gern ins Bett bringen?«, murmelte er, woraufhin sie erschrocken zusammenfuhr.
»Ich wollte Sie nicht wecken«, brachte sie heraus.
»Das dürfen Sie jederzeit gern tun.« Er öffnete nicht einmal die Augen.
Sie starrte ihn an. »Hart?«, flüsterte sie.
Seine Atmung war tief und gleichmäßig. Er schien wieder zu schlafen, denn sie erhielt keine Antwort.
Francesca wandte sich langsam ab und durchquerte erneut das elegante, aber überladene Zimmer. An der Tür verharrte sie für einen Moment, und ein eigenartiger Drang brachte sie dazu, zurückzublicken. Calder schlief tief und fest, und selbst im Schlaf wirkte er faszinierend und gefährlich auf sie.
Sie kam zu dem Schluss, dass er ein sehr interessanter Mann war.